Gartow
Hauptstraße 44
Datum: 2025
Zeitraum: 2001 - heute
Zur 800-Jahrfeier von Gartow hat Wolfgang Baark in diesem Haus (ehm. Gemüseladen) eine Austellung angeboten, die jetzt hier im Wendland Archiv mit den folgenden Aufnahmen gezeigt wird. Die Bilder bitte als Gruppe aufrufen.
Zur 800-Jahrfeier hat Wolfgang Baark aus seiner Kindheit erzählt:
Ferien im Paradies
Erinnerungen an die frühe Kindheit, Anfang der 60er Jahre bei Oma und Opa.
Wir haben einen mausgrauen DKW. Mama hat schon am Vorabend unser Auto beladen und wir fahren früh los. Mein Bruder ist 4 Jahre älter als ich, und geht schon zur Schule. Jetzt sind Sommerferien, und wir fahren zu Oma und Opa.
„Nach Hause“, sagen meine Eltern. Aber das versteh ich nicht. Ich denke, wir sind doch hier zu Hause. Hier in diesem weißen Haus mit Rosenrabatten und Jägerzaun, betonierter Auffahrt, und mit einer Terrasse, von der wir weit über dunkle Fichten hinweg ins Tal sehen können. Die Stadt, in der mein Vater arbeitet, und wo wir zum Einkaufen hinfahren ist nicht weit, aber er klagt, dass er jeden Tag im Stau steht.
Die ersten Jahre fahren wir noch über Oberhausen an dem großen Kühlturm vorbei, doch dann ist die neue Autobahn fertig, und es ist tatsächlich noch hell, wenn wir abends ankommen. Ich habe wohl die meiste Zeit geschlafen. Wie im Traum vergeht die Zeit. Und ich wache auf, in einer anderen Welt.
Opa hat das alte Holztor schon aufgemacht, damit wir gleich auf den Hof fahren können. Und Oma lehnt im Fenster und winkte uns zu.
Wir begrüßen uns alle, und während Mama und Papa das Auto ausladen, rennen wir durch das ganze Haus, inspizieren alle Räume und Trepp rauf, nach oben, wo Tante Emma wohnt... Wie das riecht, überall nach Holz, und Lehm, und alten Möbeln. Herrlich.
Dann raus auf die Straße, erst mal Wasser pumpen mit der großen Pumpe vor der Tür.
Opa ist ein großer, alter Mann, hat immer einen guten Anzug an, und eine schöne Uhr mit Klappdeckel an einer Kette in seiner Westentasche. Damit dürfen wir manchmal spielen. Oft sitzt er an seinem großen Schreibtisch und studiert Akten, oder er hat Besuch, von wichtigen Männern. Dann dürfen wir nicht stören.
Oma ist eine feine Dame. Sie rennt gleich zum Vertiko und sucht. „naaa, willn wi doch mol kieken, ob wie noch por Bonschen hämm“.
An den Wänden im Wohnzimmer hängen mehrere schön gerahmte Bilder von einem Schloss, und Opa erklärt uns, das ist die Marienburg, in der hat die Königsfamilie gewohnt.
Ich wusste nicht, dass wir einen König haben?
Dann hängen da noch Bilder von Soldaten. Das sollen Brüder von Papa sein die ich nicht kenne. Die sind im Krieg „gefallen“, heißt es. Und ich denke, ich bin doch auch schon oft gefallen.
Mein Bruder schleppt mich überall mit hin. Abends noch runter zur Seege, am Graben entlang, über den Steeg, durch das Schilf. Unter den riesigen Pappeln, an den verwilderten Gärten lang. Bei Albermanns liegt viel Schutt im Wasser. Opa warnt uns immer, einmal sei ein Junge ertrunken, beim Spielen auf dem dicken Weidenstamm, der weit ins Wasser ragt. Er hatte den toten Jungen noch auf dem Arm getragen.
Der Graben neben unserer Werkstatt fließt unter der Hauptstraße, durch ein großes Rohr durch. Mein Bruder macht mir immer Angst damit, wenn er in das Rohr reinkriecht. Gruselig, und dieser kalte, moderige Geruch...
Oft gibt es Hochwasser, und das Wasser überschwemmt alle Wiesen und steht im Graben bis an die Werkstatt. Dann kann man hinten am Hühnerstall nicht raus.
Opa erzählt, als er klein war, hätten die Elbkähne dann hier manchmal angelegt, und Holz vom Sägewerk für Hamburg geladen.
Hochwasser finde ich auch gruselig. Sooo viel Wasser überall. Sowas gibts bei uns nicht.
Sonntags geht Opa mit uns spazieren, in den „engschen Goarn“ mit den schönen Blumenbeeten, und dem Teich am Schloss. Alles ist ordentlich und gepflegt, ein richtiger Park, mit Staketzäunen eingefasst. Und es gibt einen Spielplatz mit einem hölzernen Drehkreuz im Zaun, als Eingang.
Bei Regen spielen wir in der Werkstatt, und bauen irgendwas aus Holz. Das ist spannend. So viele Werkzeuge, alle Wände voll davon. Wir dürfen alles benutzen, und überall steht gutes Holz herum. Obwohl überall Späne liegen, fühlt sich alles ganz sauber an und riecht herrlich. Opa hat hier früher Kutschen und Wagen gebaut. Aber das ist lange her.
Oder wir klettern auf den Scheunenboden. Papa erzählt, wie es früher war, als er jung war, mit Pferden, Kühen und Schweinen. Jetzt gibt es nur noch Hühner.
Dann machen wir eine Wanderung nach Laasche auf die Sanddüne, „der größte Sandkasten der Welt“, und zum Elbholz. An der Elbe planschen wir im Wasser und bauen einen Hafen im Sand.
Oder wir besuchen Opa im großen Garten hinter dem Sägewerk in der Buchhorst. Auch der Garten hat sandige Erde. Hier steht ein kleines, und ein großes Gartenhaus zwischen den Obstbäumen, und auf der Wiese daneben eine Scheune, in der wir spielen. Mittags dröhnt das Nebelhorn vom Sägewerk, und wir wissen, es ist 12:00. Dann hören die Maschinen auf zu rattern, und es wird still.
Zurück gehen wir einen verschlungenen Pfad am alten Schwimmbad vorbei mit den vermoderten Holzpflöcken im Wasser, und stöbern in der kaputten Umkleide-Baracke rum. Papa erzählt uns später, dass er dort als Junge gebadet hat.
Natürlich gehen wir zum Schloss, oder klettern auf den überwachsenen Fundamenten der alten Seegebrücke rum. Oben ist noch ein Stück vom alten Straßenpflaster zu erkennen.
Abends fährt Opa gerne mit dem Rad zum schwarzen See zum Angeln. Durch das Schilf geht ein gruseliger Trampelpfad, und alles ist voll von riesigen Mücken. Das ist so schrecklich, und wir sind von oben bis unten zerstochen.
Bei uns gibt es keine Mücken.
Einmal fahren Papa und Opa mit uns Kindern nach Lüchow. Opa muss zum Katasteramt. „Katasteramt“ ist ein sehr wichtiges Wort. Auch Papa muss oft zum Katasteramt.
Am Nachmittag marschiert mein Bruder mit mir nach Nienwalde. Da ist ganz viel Stacheldraht gespannt, und mein Bruder liest das Schild „Halt, hier Zonengrenze“. Dahinter ist gespenstische Ruhe. Mal ein Autogeräusch, aber das klingt völlig anders als bei uns, eher so wie ein Trecker. Er macht sich wieder einen Spaß daraus mir Angst einzujagen, und muss unbedingt den Fuß noch einen Schritt hinter den Stacheldraht setzen. „wieso, kann man doch“. Das sagt er immer, um mich zu ärgern.
An einem anderen Tag schleppt er mich den weiten Weg nach Wirl, vorbei an Rucksmoor, wieder an die Zonengrenze. Wieder diese gespenstische Stille. Ist hier die Welt zu Ende?
Neben dem Weg liegen Eisenbahnschienen, aber Züge fahren hier nicht.
Wir haben die Zeit vertrödelt. Auf dem Rückweg wird es dunkel und ich kann kaum noch laufen. Immer geradeaus, es kommt mir endlos vor. Aber zuhause gibt es keine Schimpfe. Die Erwachsenen sind alle beschäftigt.
Denn, im Sommer hat Oma Geburtstag und jedes Jahr kommt die ganze große Familie aus dem ganzen Land zusammen, und das Haus ist voll bis unter das Dach. Opa schläft dann in einem alten Eisenbett, ganz oben in der Dachkammer, um für uns alle Platz zu machen.
Oma ist dann fein rausgeputzt. Sie plustert sich auf und prahlt damit, dass sie immer donnerstags bei der Gräfin im Schloss mit den anderen Damen Tee trinkt. Sie benutzt auch gerne französische Wörter, aber wohl falsch. Zu „Bürgersteig“ sagt sie „Trittea“, und mein Bruder lacht.
Einmal hat sie Mama verbessert. Es ging um ein Rezept und Oma sprach von einem ‚Menu‘. Mama meinte, „Menü, säng se datt“. Aber Oma schimpfte zurück, „nee, datt is französisch, datt heit Menu!“.
Auch unser Cousin Klaus ist mit zu Besuch, er ist schon älter, schick gekleidet, sieht aus wie ein Beatle, und Opa schimpft: ha hei denn för dei Geburtstag nich wenigstens noch tou Friseur gohn künnt? Aber Klaus Vater sagt: „aber er war doch extra beim Friseur“. Und mein Bruder lacht.
Morgens bimmelt das Milchauto auf der Straße und wir rennen mit einem Krug rüber.
Die Straße ist leer, überhaupt kein Verkehr auf dem Kopfsteinpflaster. Die Häuser sind alle ähnlich, rote Ziegel, graues Fachwerk, und die schönen Sprossenfenster, die alle nach außen aufgehen. Auf unserer Seite der Straße wachsen große Linden, die im Sommer Schatten spenden.
Nur vor dem „Deutschen Haus“ stehen eine ganze Reihe amerikanische Straßenkreuzer.
Unsere Cousine Erika, auch aus dem Rheinland ist auch zu Besuch. Und Opa schimpf schon wieder, dass sie als Mädchen im Minirock zum Kaffeetrinken ins Gasthaus gehen muss:
„Ick kann di n ganzen Pott full Kaffe koken“
Tante Erna bringt zur Feier einen Arm voll Gladiolen mit. Sie hat einen schönen Garten hinter der Molkerei, in dem alles blüht.
Gestern Nachmittag war Mama mit mir bei Krauses, hinten in der Backstube, und hat dort die Torten für den Geburtstag fertig gebacken, und ich habe die großen Maschinen bestaunt.
Und danach noch rüber zu Albermanns, die bestellten Sachen abholen.
Oma schimpft immer über Albermanns, weil die so teuer sind. Aber als Nachbarn muss man da ja hin.
Zur Feier des Tages gibt es unglaublich viel zu Essen, und süßen Wein, den ganzen Tag. Die Stube ist rappelvoll, und wir Kinder sitzen alle bei offener Tür im Nebenzimmer an einem Extratisch.
Aber wann immer wir mit Essen fertig sind, oder irgendwelche Arbeiten anstehen, sagt Oma: “mi geit dat je gornich gout, ik glöv, ik mütt me bäten hänläng“, und sie verschwindet in ihrem Bett.
Aber schon bald, wenn die Kaffeemühle zu hören ist, kommt sie wieder angetapert und setzte sich an den Kaffeetisch, wo schon die Torten stehen.
Zwei Tag später sind wir wieder mit Oma und Opa allein. Alle sind abgereist, und Mama räumt das Haus auf. Oma hat sich wieder krankgemeldet.
Die Ferien gehen zu Ende und wir machen einen letzten Abstecher. Zum Kamp.
Dort hat Opa eine große Wiese mit einem kleinen Wäldchen auf einer Sanddüne vorne an. Wir gehen den Weg hinauf, und Papa und Opa zeigen auf Bäume und suchen Grenzsteine. Eine Kreuzotter schlängelt sich über den Weg, und jetzt ist es mein Bruder, der vor Angst aufschreit.
Drei Jahre später werden wir hier in einem wunderschönen Freibad schwimmen.
Um sonst, Eintritt frei für uns Enkel, und wir werden in der Sonne Würstchen essen.
Die Moderne wird auch bei Oma und Opa Einzug halten. Opa wird der erste in der Straße sein, der die schönen Fenster rausreißt, und Einscheibenglotzfenster mit Jalousiekästen einbaut. Er wird die schöne Werkstatt in eine Wohnung umbauen, und das alte Holztor durch ein albernes Törchen mit Stahlrohr-Rahmen ersetzen.
Und ich wache auf, und der Traum wird für lange Zeit vorbei sein.
Quelle:
Wolfgang
Baark
Archiv-ID: 64861